LVR-Amt für
Bodendenkmalpflege
im Rheinland
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Tüllenkanne Pingsdorfer Machart, um 1200, Fundort Brauweiler (Foto: Alfred Schuler, LVR-ABR)

Archäologie
im Rheinland

Fund des Monats Dezember 2021

Stille Zeugnisse des Holocausts – Jüdische Gebetbücher aus Zülpich

Im März 2020 wurden in Zülpich bei Bauarbeiten in der Martinstraße unterhalb des Straßenbelags von der Grabungsfirma AbisZ-Archäologie, unter fachlicher Begleitung des LVR-Amtes für Bodendenkmalpflege im Rheinland, mehrere Fragmente von Holz und bedrucktem Papier entdeckt. Darauf ließen sich trotz schlechtem Erhaltungszustands hebräische Schriftzeichen erkennen. Der historisch bedeutsame Fund wurde im Block geborgen und in den Restaurierungswerkstätten des LVR-LandesMuseums Bonn freigelegt und konserviert. Ein mühevolles Unterfangen, denn das Papier hatte sich zu einer breiigen Masse verformt und die einzelnen Blätter waren nur schwer oder gar nicht mehr trennbar.

Bei der Freilegung des Blocks stellte sich heraus, dass die Fragmente ursprünglich in einer Holzkiste lagen. Diese befand sich in einer Grube, die direkt in den anstehenden Boden gegraben und mit Steinen ausgelegt worden war. Bei der Untersuchung der Fragmente wurde schnell klar, dass hier unterschiedliche Druckerzeugnisse mit hebräischen Schriftzeichen und Frakturschrift vorliegen. Die hinzugezogenen Expert*innen vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte konnten diese als jüdische Gebetbücher identifizieren. Sie stammen wahrscheinlich aus den 1920er Jahren, was Papier und die Heftung mit Eisenklammern nahelegen.

Gebetbücher sind seit dem 19. Jahrhundert in vielen jüdischen Haushalten zu finden. Abgeleitet vom hebräischen Wort „Seder“ (= Ordnung), wird ein Gebetbuch „Siddur“ (Plural „Siddurim“) genannt. Siddurim halten die Anordnung der Gebete fest, die im privaten oder gemeinschaftlichen Gebet, wochentags wie auch am Schabbat, gesprochen werden. Sie enthalten das Morgen-, Nachmittags- und Abendgebet mit den wichtigen Hauptgebeten wie „Schma Israel“ (Höre Israel) oder „Schmone Esre“ (Achtzehnbittengebet) sowie Segenssprüche und Psalmen.

Das „Schma Israel“ ist auf dem Fund in Ausschnitten sichtbar. Auf dem ersten Fragment kann man folgende Wörter auf Deutsch lesen: „Meine Worte in…Zeichen über…auf eurem Haupte… wenn du…stehst… wenn du…schreibe sie…“. Es handelt sich dabei um einen biblischen Text (5. Buch Mose 6, 4-9). Werktags wird das „Schma Israel“ morgens und abends rezitiert und am Schabbat zum Abendgebet. Es wird auch als jüdisches Glaubensbekenntnis bezeichnet. Oberhalb des deutschen Textes ist in hebräischen Buchstaben ein Teil des Psalms 29 und unterhalb ein Teil des Psalms 95 zu erkennen.

Auf dem zweiten Fragment lassen sich Worte aus Psalm 80, Vers 2 entziffern: „Der du Joseph gleich einer...thronst, erscheine, Ewiger...Jakob bestehen“. Diese Zeilen gehören zum „Ne‘ila“-Gebet, dem Abschlussgebet am Versöhnungstag Jom Kippur, in der spezifischen Form, in der es im Rödelheimer „Machsor“ wiedergegeben ist. Der „Machsor“ (= hebr. Kreislauf) ist vom „Siddur“ zu unterscheiden. Im Machsor sind die Gebete für die Festtage im jüdischen Jahreszyklus enthalten.

Den Recherchen der Stadt Zülpich zufolge hat an dem Fundort bis 1944 noch ein Haus gestanden, das bei einem Bombenangriff zerstört wurde. Dieses Haus war im Besitz des jüdischen Viehhändlers Moritz Sommer gewesen und wurde ab 1941 von den Nationalsozialisten als „Judenhaus“ genutzt.

Seit Mai 1941 betrieb die Euskirchener Kreisverwaltung analog zu reichsweiten Initiativen die Ausweisung von Menschen jüdischen Glaubens aus ihren Häusern und Wohnungen. Es herrschte Wohnungsnot, verfügbare Häuser waren rar. Daher sollte das jüdische Wohneigentum auch in der Börde „arisiert“ und neu vergeben werden. Die so Zwangsumgesiedelten wurden durch Weisung der Kreisverwaltung auf einige wenige, vorläufig weiterhin in jüdischem Eigentum verbleibende Häuser im Kreis verteilt. Solche Häuser wurden von den NS-Behörden „Judenhäuser“ genannt. Aufgrund der massiven Überbelegung waren die Wohnverhältnisse in diesen Häusern schlecht.

Aus den überlieferten Akten wird ersichtlich, dass mindestens drei Familien und eine weitere Person bei Familie Sommer mit im Haus untergebracht wurden. Es ist bekannt, dass Moritz Sommer, seine Frau Lina und ihr Sohn Kurt am 20. Juli 1942 nach Minsk in Belarus deportiert und dort vier Tage später in der Vernichtungsstätte Maly Trostinez ermordet wurden. Auch von den übrigen Bewohner*innen überlebte niemand.

Es ist wahrscheinlich, dass die Gebetbücher von der Familie Sommer oder einer der ebenfalls dort untergebrachten Familien unter dem Dielenboden des Hauses in einer Holzkiste vergraben wurden, um sie dort zu verstecken und vor dem Zugriff Dritter zu bewahren. In der Nachkriegszeit wurde das Gelände zur Erweiterung der Straße genutzt, wodurch die Textfragmente unter den Straßenbelag gelangten.

Heute erinnern vor Ort Stolpersteine an die Familie Sommer.

Zu dem Fund gibt es auch ein Video auf unserem YouTube-Kanal: Hier klicken!

Die Pressemitteilung dazu ist hier zu finden.

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